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Wettbewerbsrecht und Regulierung

Benachteiligung beim Bezug knapper Güter – Antworten des Kartellrechts auf die Corona-Krise

In der Corona-Krise, vor allem im Zuge der ersten Welle, sind Produkte und Dienstleistungen plötzlich rar geworden. Idealerweise träfe eine solche Situation die Unternehmen so, dass die Last der Mangellage "gerecht" verteilt ist. Nur entspricht dies nicht der Realität. Für verschiedene Produkte und Dienstleistungen, etwa bestimmte Arzneimittel oder Medizinprodukte, hat der Bundesrat deshalb in der Corona-Krise via Notrecht eingegriffen und für eine faire Verteilung gesorgt. Ist dies nicht der Fall, so haben Unternehmen unter Umständen noch die Möglichkeit, sich mit kartellrechtlichen Mitteln gegen eine Benachteiligung beim Bezug knapper Güter zu wehren.

12.10.2020 Dr. Oliver Kaufmann

Was ist passiert? Der Konsument hat im Supermarkt plötzlich Pasta, Zucker oder Toilettenpapier vermisst und dem Hersteller von Laborgeräten fehlte es an unverzichtbaren Zwischenprodukten einzelner Zulieferer. Spitäler konnten Schutzmasken oder bestimmte Arzneimittel nicht oder nur in ungenügender Zahl beziehen, Beratungsunternehmen hatten Mühe, Webcams fürs Home-Office der Mitarbeiter zu besorgen und die Post war nicht mehr in der Lage, Pakete von Online-Händlern innert nützlicher Frist auszuliefern.

Die Covid-19-Pandemie hat dazu geführt, dass bei verschiedenen Produkten und Dienstleistungen die Nachfrage über Nacht förmlich explodiert ist, während in anderen Fällen das Angebot von einem Tag auf den anderen versiegte. Jedenfalls bestand für verschiedene Produkte oder Dienstleistungen – wenn auch in der überwiegenden Zahl der Fälle nur vorübergehend – eine akute Knappheits- oder Mangellage.

Was für Konsumenten mehrheitlich "nur" mühsam und mit einem Verlust an Lebensqualität verbunden ist, kann für ein Unternehmen jedoch existenzbedrohend sein. Angesichts der sich bereits abzeichnenden zweiten Welle der Corona-Pandemie fragt sich, was betroffene Unternehmen allenfalls tun können, wenn der Staat nicht eingreift und sie im Bezug knapper Produkte oder Dienstleistungen benachteiligt werden.

Marktmacht durch Knappheit

Aus kartellrechtlicher Sicht führt eine generelle Knappheits- oder Mangellage dazu, dass die Anbieter der knappen Güter temporär über erhebliche Marktmacht verfügen oder sich eine bereits bestehende Machtstellung verstärkt. Betroffene Abnehmer können aufgrund der Mangellage die benötigen Produkte oder Dienstleistungen von ihrem bisherigen Anbieter entweder gar nicht oder nicht mehr in der benötigten Menge beziehen – und sie können in der Beschaffung auch nicht ohne weiteres auf einen anderen Anbieter ausweichen. Letztere sind ja ebenfalls nur eingeschränkt in der Lage, Anfragen zu bedienen, schon gar nicht Anfragen neuer Kunden. Es wäre bei einem Wechsel auf einen anderen Anbieter zudem möglicherweise mit deutlich schlechteren Preisen und Konditionen zu rechen.

Das Problem lässt sich anhand einer Produktionskette für Beatmungsgeräte illustrieren. Die Hersteller von Beatmungsgeräten sind darauf angewiesen, Lüfter von Drittherstellern einkaufen zu können. Infolge der Pandemie-bedingten Ausnahmesituation können die Hersteller der Lüfter nun nur eine vergleichsweise geringe Menge produzieren, wobei gleichzeitig die Nachfrage nach Beatmungsgeräten unerwartet stark ansteigt. Beliefern die Hersteller der Lüfter nun einen der Beatmungsgeräte-Hersteller nicht, so ist dieser gegenüber seinen Konkurrenten im Nachteil. Je nach den konkreten Umständen wird er bereits nach kürzerer Zeit aus dem Markt ausscheiden - oder aber unangemessene Preise oder Konditionen eines Lüfter-Herstellers akzeptierten müssen.

Die Abnehmer von knappen Güter sind jedenfalls von den Anbietern unter Umständen in hohem Masse wirtschaftlich abhängig, und den Anbietern kommt handkehrum eine erhebliche Marktmacht zu. Die Abnehmer sind auf eine Belieferung zu fairen Konditionen angewiesen, insbesondere auf eine Gleichbehandlung gegenüber Konkurrenten.

Marktbeherrschende Stellung

Das Schweizer Kartellrecht versteht unter einer marktbeherrschenden Stellung mitunter Situationen, in denen ein Anbieter in der Lage ist, sich von seinen Konkurrenten oder aber Abnehmern in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten (Art. 4 Abs. 2 KG). Der Anbieter kann also von seinen Abnehmern beispielsweise Mondpreise verlangen oder bestimmte Abnehmer diskriminieren und die Belieferung ohne triftigen Grund verweigern.

Gemäss Botschaft zur Kartellgesetzrevision 2004 sind in der Beurteilung einer möglichen marktbeherrschenden Stellung durch insbesondere auch die konkreten Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Markt zu prüfen (Botschaft 2001, S. 2045). In der Lehre ist umstritten, ob im Verweis auf die Prüfung konkreter Abhängigkeitsverhältnisse bereits eine Übernahme des Konzepts der relativen Marktmacht des deutschen Rechts zu sehen ist, wie dies die Fair-Preis-Initiative derzeit fordert. Die Botschaft des Bundesrates, die erkennbar die Terminologie des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWB übernommen hat, wie auch die Gesetzgebungsgeschichte legen diesen Schluss jedenfalls nahe.

Unabhängig von dieser Frage ist aber unbestritten, dass wirtschaftliche Abhängigkeiten in der kartellrechtlichen Beurteilung berücksichtigt werden. Die Wettbewerbskommission und deren Sekretariat haben derartige Abhängigkeitsverhältnisse nach der Revision 2004 denn auch in mehreren Fällen berücksichtigt, teilweise unter ausdrücklicher Erwähnung des Begriffs der relativen Marktmacht (vgl. etwa RPW 2008/4, S. 578 Rz. 196RPW 2012/1, S. 100 Rz. 141).

Mangelbedingte Abhängigkeit

Im Kontext der Corona-Krise ist der Blick auf unseren nördlichen Nachbarn deshalb von Interesse, weil die deutsche Praxis zur relativen Marktmacht die Fallgruppe der knappheits- oder mangelbedingten Abhängigkeit entwickelt hat.

Kennzeichnend für diese Fallgruppe ist eine allgemeine Mangellage, verstanden als generelle Verknappung einer bestimmten Warengattung oder Produktgruppe. Die betroffenen Unternehmen können dabei aufgrund der Mangellage die benötigen Produkte oder Dienstleistungen gar nicht oder nicht mehr in den bisherigen Mengen oder nicht mehr zu konkurrenzfähigen Bedingungen von anderen Anbietern erhalten; der Bezug bei anderen Anbietern wäre ebenfalls nur eingeschränkt und unter ungünstigeren Konditionen möglich. Die Anbieter der knappen Produkte gelten in diesen Fällen nach deutschem Recht als relativ marktmächtig und müssen sich gegenüber den Abnehmern an bestimmte Verhaltensregeln halten.

Hilfe für betroffene Unternehmen

Das Kartellrecht gilt auch in der Krise. Schweizer Unternehmen, die infolge der Corona-Krise als Abnehmer von knappen Produkten oder Dienstleistungen gegenüber Konkurrenten benachteiligt werden oder sich mit unverhältnismässigen Konditionen konfrontiert sehen, können sich vor Wettbewerbsbehörden und Zivilgerichten darauf berufen, dass knappheitsbedingte Abhängigkeitsverhältnisse auch unter Schweizer Kartellrecht zu berücksichtigen sind.

Möglicherweise betroffene Unternehmen müssten zunächst prüfen, ob für die in Frage stehenden Produkte oder Produktgruppen nicht bereits eine staatliche Regelung besteht, was einen kartellrechtlichen Ansatz möglicherweise ausschliessen könnte. Anschliessend wäre zu klären, ob etwa eine kurzfristige substantielle Preiserhöhung objektiv gerechtfertigt ist, oder ob tatsächlich eine Ungleichbehandlung gegenüber Konkurrenten vorliegt und ob sich diese Ungleichbehandlung auf sachliche Gründe stützen kann.

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Wer im Wettbewerb mit Konkurrenten gewinnbringend zusammenarbeiten oder seine Marktmacht optimal ausspielen will, muss die Regeln des Kartell- und Wettbewerbsrechts verstehen und die branchenspezifische Regulierung kennen. So wird Compliance zum Wettbewerbsvorteil.

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